Frühaufsteher…
Mit dem ersten Sonnenstrahl (der heute wegen der dichten Wolken nur in die Phantasie hineinscheint) stehen wir auf.
Während Pete draußen die Tiere versorgt, mache ich den großen Ofen in der Küche an.
Habe keine Lust so lange zu warten, bis der heiß genug ist, um darauf das Teewasser zu kochen und nehme dafür das elektrische Gerät.
Die erste Nacht allein in unserem neuen Reich liegt hinter uns.
Es war eine kurze, eine schlaflose Nacht. Eine laute und schweißtreibende Nacht, wild und exzessiv. In der der Strubbelige einige tiefe rote Kratzer auf dem Rücken davongetragen hat. Ich sollte wirklich mal wieder meine Fingernägel machen, denke ich so bei mir, als ich die Spuren dieser Nacht an ihm entdecke.
Das Holz im Ofen knistert und knackt und verbreitet schon allein durch diese Geräuschkulisse eine wärmende Wohlfühlatmosphäre in der Küche.
Auf der Eckbank steht noch ein Karton mit alten, sehr alten Erinnerungen aus einer Zeit, die mir beinahe surreal weit entfernt vorkommt.
Urkunden von gewonnen Handballturnieren. Fotoalben, die Jugendsünden der frühen, wilden Camilla gnadenlos festhaltend und wieder aufdeckend.
Meine erste Tasse Tee.
Gedankenverloren greife ich nach einem dieser Alben und ziehe es vorsichtig aus dem Karton. Noch bevor ich es aufschlage und durch ein mystisches Loch im Raum-Zeit-Gefüge um 20 Jahre zurück geschleudert werde, denke ich noch, dass ich meinem Kind eines Tages sicher werde erklären müssen, warum die altertümlichen Höhlenmenschen in der Generation vor ihm ihre Fotos noch umständlich auf spezielles Papier drucken ließen und sie dann zeit- und platzraubend in dicke, staubige Wälzer einklebten.
Little fellow schläft noch tief und fest, war ja auch für ihn eine unruhige und wilde Nacht, in der er ziemlich durchgeschüttelt wurde, aber ich höre schon die Frage, warum wir unsere Bilder nicht einfach wie jeder normale Mensch auf seinem iPhone hat…
Staubigen, abgestandenen Muff verbreitend, gibt das Album mit dem ersten aufschlagen seine Geheimnisse preis.
Mein Gott, wie lange ist es wohl her, dass ich mir diese Fotos angeschaut habe?
Mein Bruder und ich im Garten meiner Oma.
Mitsommer im Land der Elche.
Jan, braungebrannt, drahtig, in Badehose mit einem Fußball in der Hand. Fröhlich in die Kamera lachend. Die Knochen des Pubertierenden passen irgendwie nicht richtig zusammen, wie bei einem Welpen sind die Füße viel zu groß, Arme und Beine im Verhältnis zu lang und schlaksig…
Die kleine Schwester vor ihm, in ihrem roten Bikini, ihrem Lieblingsbikini. Die ewig langen Haare links und rechts zu Zöpfen geflochten, lacht sie mit ihrer unförmigen Zahnspange in Omas alte Kamera. Das rote Bikinioberteil schwimmt im Hintergrund im brodelnd heißen Wasser des aufblasbaren Planschbeckens.
Lächelnd meinen Tee schlürfend, erinnere ich mich genau an die Szene. Ich muß 12 gewesen sein, und meine geliebte Omi erklärte mir an dem Tag, dass es wohl langsam besser wäre, wenn ich meinen Bikini ganz anziehe und nicht nur die untere Hälfte davon…
Ich blättere weiter.
Meine Freundinnen und ich im selben Garten, fröhlich planschend in dem Wasserbecken spielend, alle nass wie die Pudel…
Die ganze Mädchenmeute lachend an dem langen Holztisch in Omas Garten, Berge von selbstgebackenem Kuchen warten darauf, von uns verschlungen zu werden.
Ich bin so vertieft in diese Vergangenheit, dass ich sogar den atemberaubenden Duft dieses phantastischen Kuchens riechen kann.
Von zwei der Mädchen fällt mir nicht einmal mehr der Name ein…
Seite für Seite, Foto für Foto tauche ich tiefer ein in die Sommer der frühen 90er Jahre. Und wieder singt Per Gessle laut wie eh und je sein „Joyride“ in meinem Kopf. „She’s a flower, I can paint her, she’s a child oft he sun…“ Ich wäre damals gestorben für einmal wasauchimmer mit diesem Kerl!
Lange vor der Erfindung des Internet und der mit ihm neu entstandenen Begriffe gab es ihn bereits: den „Cameltoe“.
Ich muss fünfzehn gewesen sein auf diesem Bild. Entstanden in einem Ferienlager an einem mückenverseuchten See in Mittelschweden.
Drei üppig gewachsene Grazien oben ohne und mit ewig langen Beinen, sich in der Winzigkeit ihrer Bikinihöschen gegenseitig übertrumpfend, liegen dicht nebeneinander im Gras am Ufer des Sees.
Die Aufnahme wurde knapp über dem Boden gemacht, im Vordergrund die Füße, gefolgt von der zugegeben großartigen Topografie edel gewachsener Geschöpfe, die gerade dabei sind, sich selbst und den Rest der Welt ausgesprcohen sexy zu finden…
Jenni, Camilla, Mara.
Wenn ich je so etwas wie „beste Freundinnen“ hatte, dann waren es diese beiden.
Ja, fünfzehn waren wir da. Mara war wohl schon sechzehn, sie war ein Jahr älter, glaube ich.
Es brodelte ein Glaubenskrieg der Marken: Jenni schwor auf Marlboro, die Schachtel sehr cool in den Steg des Bikinihöschens eingeklemmt, Mara und ich die lautstarken Verfechterinnen skandinavischen Lokalkolorits, eine Packung Prince Denmark nach der anderen wegpaffend…
Was wohl aus ihnen geworden sein mag?
Ein wenig Kontakt hatte ich immer noch zu ihnen, nachdem ich mit Dad wegzog, nach Mamas Tod.
Jenni, die Technikbegeisterte, studierte irgendwas mit Maschinentechnik und hat später Karriere bei Volvo gemacht.
Mara… das letzte, was ich von ihr hörte war, dass sie an MS erkrankt sein soll und mittlerweile zwei oder drei Kinder hat.
„Oh, think twice. It’s just another day for you and me in paradise“ summe ich leise vor mich hin, auch einer unserer ganz großen Jugendhits. Vor Jahren habe ich mit Sandra einmal ein Konzert von Phil Collins in London gesehen, es war gigantisch!
Ich schrecke hoch und komme von unendlich weit her, als die Tür aufgeht und Peter fröhlich pfeifend mit einem Korb voller frischer Eier und ein paar frisch gepflückten Kräutern mit einem Schwall kühler, klarer Sommerluft reinkommt.
„Hey Schönheit, von wo habe ich dich denn jetzt geholt, du sieht ja total verträumt aus.“
„Aus einer vergessenen Zeit in einem vergessenen Jahrhundert, Süßer. Schön, dass du da bist.“ sage ich und klappe langsam und vorsichtig das Album zu.
Augenblicklich sind Per und Phil verstummt.
Ich schaue Pete lächelnd an und schmelze schon wieder dahin.
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