Verfasst von: LaScotia | Dezember 2, 2015

Unterschiedliche Dynamikerinnen

Heute Vormittag mit einer Frau telefoniert, die ich seit einigen Jahren kenne. 

Sie „Freundin“ zu nennen würde weit übers Ziel hinaus schießen, aber wir verstehen uns sehr gut und quatschen hin und wieder mal. 

Kennengelernt haben wir uns vor drei, vier Jahren auf einer Messe in Berlin. 

Wir sind – jede für sich – ziemliche Dynamikerinnen, wenn auch auf dramatisch unterschiedliche Weise. 

Sie, wir nennen sie einmal Sarah, residiert in einem ngelneuen, semischmucken Klotz auf einem etwa acht Quadratkilometer großen Neubaufeld am Stadtrand von Berlin. 

Inmitten einer Siedlung von 20.000 baugleichen semischmucken Klötzen in dieser praktischen Containerarchitektur.

Kubische Wohnträume in Stahl, Beton und Glas. 

Das Glas übrigens, umlaufend von der Decke bis zum Boden reichend, wird dann – und da wird selbst der schlimmste Wohnwürfel noch ein Stück ungemütlicher im betonierten Ozean städtebaulicher Anonymität – von innen mit genauso hohen Stoffpapierschiebeelementen so verhüllt, dass Tageslicht und Blicke der vier Meter entfernt hausenden neugierigen Nachbarinnen ausgesperrt bleiben. 

Was den Einsatzzweck einer Glasscheibe in einer Hauswand zur billigen Satire verramscht. 

Ich habe mal Bilder gesehen von ähnlichen Vorstädten in den USA. Nur, dass die sich dort mehr Platz gönnen.  

Ganz furchtbar. 

Aber wir schweifen ab, es ging ja um Sarah. 

Sarah arbeitet nicht, Sarah ist in Elternzeit. 

Jeremy Aaron und Paulina Jakobine heißen ihre kleinen Sonnenkinder, mit jeweils eigenen Namensschild aus einer selbstgemachten Salzbrezelteig-Silikon-Mischung draußen an der Designertür verewigt, müssen schließlich zwei- bis viermal pro Woche mit dem schiffsdieselbefeuerten SUV aus Süddeutschland die paar hundert Meter zum esoterischen Reitstall, dem Posaunen- und Jazztrompetenorchester Klein Witzow bzw. dem Ballettunterricht für junge Veganerinnen gekarrt werden.  

Sarah fragt mich nun also, wie es so geht und wie das hier alles so läuft, und weit wir es denn „zum Lidl“ haben würden. 

Ja danke, alles schick, alles hübsch hier, die Kleine ist gerade etwas mitgenommen, weil sie die ganze Nacht gekackt und gekotzt hat, und Lidl gibt’s hier nicht, aber wenn ich einkaufen fahre, dann fetze ich mit dem Prinzesschen eben mit dem Schiff rüber nach…

Oh mein Gooott, Cami, wie schrecklich!

Gut, dass Sarah nicht sehen kann, mit welchem debilen Alzheimerblick ich das Telefon anglotze. 

Was soll so schrecklich daran sein, per Schiff einkaufen zu fahren?

Nein, um Himmels Willen, das meinte sie ja gar nicht, aber oh meiiin Gooott, mein Kind so krank, und hier in der Pampa – an der Stelle bin ich kurz versucht, Sarah zu unterbrechen und ihr den Unterschied zwischen der Pampa, einer riesig großen Grassteppe in Südamerika, und Raasay, einer winzig kleinen Felseninsel im Atlantik zu erläutern, kann mich aber nicht gegen ihren Redeschwall durchsetzen… – sei doch bestimmt nirgends eine Kinderklinik oder wenigstens ein qualifizierter Kinderarzt zu finden. 

Oh meiiin Gooott,  nein wie fuuurchtbar, also das sei ja unvorstellbar, dass Paulina Jakobine  … Also nein. Camilla!!!

Als ich endlich wieder zu Wort komme, möchte ich von Sarah wissen, aus welchem Grunde ich mit wem zu einem qualifizierten Kinderarzt fahren sollte? Der nächste sei ein paar Stunden weit weg, und überhaupt fehlt dem Prinzesschen ja nichts. Sie kotzt eben nur und hat ganz geschmeidigen Dünnpfiff. 

Nein wie entseeeetzlich, Cami, also wenn sie – Sarah – sich vorstellen sollte, Paulina Jakobine oder Jeremy Aaron seien derart sterbenskrank…

Stop!

Bitte?

Sarah, niemand ist hier sterbenskrank. Wenn das in sagen wir mal zwei, drei Tagen nicht wieder weg ist, rufe ich dort mal an. 

Niemand gerät hier in derartige Panik, wenn das Kind mal kotzt. Ich schätze, sie hat sich einfach mal was falsches in den Mund gesteckt, gestern im Hühnerstall. 

Im Hüüühnerst… oh meiiin Gooott, Camilla, das ist doch nicht dein Ernst… Du ich muss auflegen, Jeremy Aaron ist hingefallen und weint, bis bald Tschüss. 

Freunde, wer von uns beiden hat nicht mehr genug Tee in der Tasse???


Antworten

  1. Schwieriges Thema. Für Magen-/Darm muss man sicher nicht sofort in Rufweite den nächsten Kinderarzt oder die nächste Kinderklinik haben. Andererseits war ich schon froh, dass die Kinderklinik von uns aus in fünfzehn Krankenwagenminuten erreichbar war, als Kind 2 im Zuge eines Krupp-Anfalls keine Luft mehr bekam.

    Generell finde ich, dass deine Freundin zu viel Aufhebens macht. Erlebt man ja häufiger mal, gerade bei neurotischen Mamis.

    Im aktuellen Fall bin ich also ganz bei dir, hätte aber bei schlimmeren Geschichten durchaus gerne das Fangnetz, mein Kind schnell qualifiziert versorgt zu sehen.

    Tee trinke ich übrigens gar nicht, damit bin ich aus dem Vergleich einfach mal raus ;-).

    • Also, wenn es hier wirklich brenzlig wird, ist der Rettungskreuzer aus Portree sehr schnell da. Es wurde auch schon mal einer mit dem Heli abgeholt. Tatsächlich sind wir also nicht unziviliserte Wilde oder sowas. 😋

      • Irgendwer muss dir mal sehr doll auf die Füße getreten sein, dass du immer sofort mit den unzivilisierten Wilden um die Ecke kommst … hab ich doch gar nicht behauptet/nichts von gesagt!

        Tatsache ist aber doch nun einmal, dass es selbst auf einer deutschen Nordseeinsel, die in Rufweite zum Festland liegt, länger dauern kann, bis ein Kranker in die Klinik geschafft werden kann. Und da hab ich mir eben so überlegt, dass die Wege bei euch ja nun doch etwas weiter sind. Nicht mehr, nicht weniger.

        Dass der- oder diejenige auch mitten in Berlin mit dem Krankenwagen im Stau steckenbleiben kann, macht ja die eine Aussage nicht richtiger oder falscher als die andere. Oder dass es in ländlicheren Gegenden Deutschlands auch schon mal eine halbe Stunde dauert, bis ein Krankenwagen eintrifft.

        Übrigens sehe den örtlichen Rettungs-Heli hier täglich an meinem Bürofenster vorbeifliegen und hin und wieder landet er sogar in Sichtweite.

  2. Du bist einfach genial 🙂

    • Warum denn jetzt schon wieder? 😱😇

  3. Bin Mutter von 3 Kindern und ganz deiner Meinung.

    Leider nimmt das aber immer mehr zu.

    Ich habe z.B. einen Kollegen, der mit seinem Sohnemann 8 Jahre zum Psychiater geht, weil der keinen Bock auf Schule hat.

    Locker bleiben und nicht verrückt machen.

    • Oha. Mein Bock auf Schule war mit 8 Jahren auch eher nicht so ausgeprägt… Die hätten mich also nach heutigen Maßstäben glatt ins Irrenhaus stecken müssen. Hmmm… Habe ich viellecht deshalb so ein Herz für Irre und Bekloppte? 😂😂

      • Jepp !

      • Wir bevorzugen den Ausdruck „verhaltensoriginell“!

        • 😂😂😂😂 Danke! Einmal am Tag soll der Mensch so lachen. Scheisse, jetzt hab ich Schluckauf davon… Hick

  4. Ich sag’s doch: Brötchenholautomuttis.

    • Genau so sieht es aus. Mann Mann Mann … 😤😤

  5. Herrlich! 🙂
    Ich wurde schon schief angeguckt, weil ich meine Tochter einen Weg von 300m zur Grundschule habe alleine laufen lassen – in einem Dorf mit weniger als 1000 Einwohnern, wo jeder noch weiß was der Nachbar die ganze Woche so treibt (oder eben nicht).
    Wie oft werdet ihr euch wohl noch über Kinder unterhalten?!?

    • Sarah und ich? Muahahaha, das wird ein ewiger Spaß bleiben, glaube ich. Mein Ziel ist eigentlich, dass Zoë den Weg zur Schule spätestens Mitte des 2. Schuljahres selbstständig zurücklegen wird. Sie ist dann zwar eine ganze Weile unterwegs, aber das wird sie lernen. (McSomething die alte Rabenmutter…)

  6. Halt ich für vernünftig, wenn sie den Weg alleine meistert. Wie lange/weit ist sie denn dann ungefähr unterwegs?

    Unsere, dieses Jahr eingeschult, braucht nicht mehr lange, bis wir sie alleine gehen lassen können. Das Wichtigste, das ordentlich über die Straße gehen, hat sie schon sehr gut drauf. Jetzt müssen wir ihr noch das Lahmen abtrainieren ;-).

    • Bis zur Straße sind es von uns aus etwa 2 Meilen. Dort wird sie vom Schulbus abgeholt und wieder abgesetzt. Mal sehen, was sie zuerst und besser kann – Mountainbike oder Quad… 😱

      • Gut, zwei Meilen ist jetzt nicht soo wenig, aber machbar. Und du stellst ja schon die passenden Hilfsmittel in Aussicht! 🙂

  7. Die armen heligekopteren Kinder. Vor lauter antibakteriellen Putzmitteln können die gegen nix Abwehrkräfte aufbauen!

    Was gibt es denn für Kinder schöneres, als über Wiesen und in Wäldern und Hecken zu spielen und zu toben? Klar, aufgeschlagene Knie, kleine Löcher im Kopp (irgendwo angestoßen und es blutete) sind da normal.

    Solche Eltern frag ich gerne, wie die gesamte Menschheit bis heute überleben konnte, noch dazu, da es durch die gesamte Stein-, Bronze- und Eisenzeit keine Kinderhomöopathen gab?!

    • Ich habe mich mal in Berlin mit so einer unterhalten, und ihr erklärt, was die Evolution bis vor 100 Jahren mit laktoseintoleranten, Grüntee schlürfenden Verganerinnen gemacht hat. Dieses Gesicht war unbezahlbar und dass ich danach nie mehr von ihr hörte, für mich kein Verlust… 😂😂😂

  8. Hat dies auf husspel2219 rebloggt und kommentierte:
    Ich muss dir sagen, dass deine Geschichten so plastisch und real geschrieben (dargestellt) sind, dass es immer wieder eine Freude ist deine Beiträge zu lesen. Man fühlt sich inmitten des Geschehens mit einbezogen.
    Congratulations to you

  9. Wenn die mit ihren kotzenden Kids durch das Berliner Verkehrschaos muss ist die vermutlich länger unterwegs als Du mit dem Boot.
    Brrrr

    • Gutes Argument! 👍🏼👍🏼😂

  10. Ich hab ja noch keine Kinder,… aber generell finde ich es blöd, wenn jemand seine Vorstellungen von Tun und Machen um jeden Preis dem anderen aufzwingen will, weil „das geht ja gar nicht“ .. 😥

    Abgesehen davon hoffe ich, dass ich nicht so eine Helikoptermama werde. 😂 Klingt ja grausig!

    Aber für mich wäre es auch nichts, soweit vom KH/Arzt/Apotheke wegzuwohnen, falls mal ein *wirklicher* Notfall eintritt. ^^

    • Die Entfernung war für uns irgendwie nie ein Thema. Pete ist monatelang in Gegenden unterwegs gewesen, wo sie den Begriff Hospital oder Arzt überhaupt nicht kennen.
      Und das andere Extrem: bei Sandra war der Heli nach wenigen Minuten, eine halbe Stunde danach war sie in einer der (angeblich) besten Kliniken in Deutschland. Und? Hat das etwas genützt…? 😢

      • Hmhm. Bei euch ist das irgendwie anders. Finde ich ganz faszinierend.

        . 😢

        • Vielleicht haben wir nur nicht diese Vollkaskomentalität? Weiß nicht genau…

  11. hab mich köstlich amüsiert 😉 bin auch rabenmutter 😛 lass meine Kinder allein in die schule gehen, lasse sie ständig fremdbetreuen (kita, tagesmutter, bei Freunden zu spielnachmittag)… Und bin ganz furchtbar, weil ich meine Kids nicht 7 Tage/Woche durch die Gegend zu diversen turnen/tanzen /sprachen/musizieren /meditieren etc pp herum kutschiere… ähm… Und zum doc geh ich nur, wenn es wirklich ernst ist, sprich hohes Fieber oder ansteckend, um nen blauschein für meinen Brötchengeber zu bekommen. Wo ist die Ecke, ich geh mich schämen /Ironie off 😀

    • Ha! Ich wusste, ich bin nicht allein! Danke und willkommen im Club


Hinterlasse einen Kommentar

Kategorien

Natürlich nackt

Nude Art und Aktfotografie mit kurzen Essays

Kiira

A story I want to tell

Ideenwerkstatt

Gedichte, Geschichten, Ideen und mehr

Leben halt

Kommentarfunktion Aufgrund der neuen Richtlinien zum Datenschutz (GDPR) bitte ich euch auf Folgendes zu achten: Mit der Nutzung der Kommentarfunktion erklärt ihr Euch mit der Speicherung und Verarbeitung eurer Daten durch meine Website einverstanden

GLEICHAnders

Meine Plattform "GLEICHAnders" werde ich nutzen, um über verschiedene Themen zu berichten - u.a.etwa wie Integration besser gelingen kann, über den anfänglichen erlebten Kulturschock, wie tief Vorurteile in Menschen verankert sind, meine Erfahrungen mit Rassismus und warum so viele gemischte Beziehungen scheitern, über die Erziehung von Kindern die mehrere Kulturen in sich tragen, usw. Komm mit und tauche in meine bunte Welt ein.

freudenwege

auf den pfaden der freude

miasraum

Das Leben und das Sein

Mitohnesahne's Blog

Das Leben- mit und ohne Sahne Fotos und Bilder unterliegen meinem Copyright 2022/23 by mitohnesahne

Anny Page's World

Bist du dir selbst wichtig? JA!

meinekleinechaoswelt

Klischees? Schubladendenken? -OHNE MICH !

JuckPlotz

Das Rauf und Runter im täglichen Leben

Verbalkanone

Gedanken und Texte eines Nordlichts

Blickpunkt - Die Freiheit des Denkens

Erst, wenn man die Angst vor dem Tod verloren hat, kann man wirklich beginnen zu leben

Thomas hier...

Gedanken, Gedichte, Fotos, Musik