Verfasst von: LaScotia | Februar 4, 2014

Die Superschüssel

Einen Moment bin ich versucht, ein paar Klamotten zusammenzuraffen und zu verschwinden.

Nach Berlin, zu Sandra.

Oder nach Skye, zu Shauna.

Hauptsache, weg von hier.

Weg von diesem johlenden Irrenhaus!

Kausalketten, manchmal liebe ich sie, meistens kapiere ich sie nicht.

In einem kleinen Kuhdorf vor den Toren New York Citys  versuchen gefährlich aussehende Männer, sich ein ledernes Ei zuzuwerfen und hinter das Tor der gegnerischen Mannschaft zu tragen, und hier geht deswegen jede Menge Gebrauchskeramik zu Bruch…

Schwere Zeiten im Moment für Peter, das gebe ich ja gerne zu. Also, für den Sport- und Fußballfan Peter, der wie ein getretener Hund mitleidet, wenn „sein“ Manchester United wieder mal verliert.

Und nun wollte er sich einfach nur mit ein paar Dosen Bier und einer Halbjahresration Popcorn die Nacht um die Ohren schlagen, um eingangs erwähnten amerikanischen Eierwerfern bei ihrem skurrilen Tun zuzusehen.

So weit, so gut, ich hatte mich vorsorglich mit Oksana auf einen lustigen Weiberabend verabredet, wir sind durch ein paar Clubs getingelt und am Ende in einer Bar gelandet, in der sich wohl die ukrainische Gemeinde Londons trifft. Nie zuvor sah ich Menschen, die sich Vodka wie Wasser in den Kopf kippen und ungerührt weiterhin normale Gespräche führen.

Leider verstehe ich nur Bahnhof, wenn Leute russisch mit mir reden wollen, aber Oksana ist als Simultandolmetscherin unschlagbar. Ich erfuhr sehr viel über die Ängste, Sorgen, Hoffnung und Wut dieser liebenswerten, freundlichen Menschen, die mit bangen Augen in ihre Heimat blicken und jede Nachricht aus Kiew und Odessa aufsaugen wie ein trockener Schwamm einen Tropfen Wasser.

Irgendwann nach Mitternacht plumpsen wir beide in ein Taxi, und der wortkarge indisch wirkende Fahrer setzt uns genau vor unserer Haustür ab.

Oksana ist ziemlich angetrunken, wir küssen uns zum Abschied vor ihrer Tür und einen Moment bin ich stark in Versuchung, einfach mit ihr reinzugehen und über sie herzufallen. Ich küsse sie so gerne, sie macht mich immer augenblicklich geil mit ihrer spitzen wieselflinken Zunge.

Soll man gelegentlich mal auf seinen Bauch hören, Camilla, oder soll frau lieber immer der Meinung bleiben, alles, also wirklich alles, immer besser zu wissen und zu können?

Ich hätte nach einer wunderbaren Nacht und einer entspannenden Kette multipler Orgasmen in den Armen dieser süßen Wildgans nach oben gehen und den strubbeligen Teufel wecken können. Hätte ihn auf dem Sofa mit der Wolldecke zudecken und das Fernsehgerät abschalten können.

Vielleicht seine paar Bierdosen wegräumen und die restlichen Hände voll Popcorn naschen, obwohl… dass er mir eine Handvoll Popcorn übrig lässt, ist dann doch eher ein unrealistischer Gedanke.

Hätte, wenn und wäre.

Stattdessen tue ich das, was ich mir schon sehr früh am Abend vorgenommen hatte, also löse ich mich von Oksana, streichle ihr noch mal über den knackigen, kleinen Arsch, sie gibt mir einen Klaps und verschwindet in ihrer Wohnung, während ich die Treppe nach oben laufe, fröhlich, aufgekratzt und bereit, die Begehrlichkeiten meines darbenden Hormonhaushalts jetzt sofort gegen eine unüberschaubare Masse Eier werfender, verkleideter Männer zu Felde zu führen und den künftigen Vater unserer Kinder daran zu erinnern, dass man vor dem Kinder bekommen zunächst einmal Kinder machen sollte…

Hätte, wenn und wäre.

Hätte er einfach nur mit mir gesprochen, wäre sicher nichts passiert. Wir würden jetzt einfach wieder ein paar Absätze nach oben scrollen, und ich würde euch, ihr lieben Leser, wahrscheinlich wieder einmal daran teilhaben lassen, welchen Spaß Oksana und ich zusammen haben können, wenn wir uns erstmal die Klamotten vom Leib gerissen haben…

Hätte er…

Hat er aber nicht.

Ich sollte an dieser Stelle und mit etwas zeitlichem Abstand zugeben, dass ich ja auch nicht nachgefragt habe. Ich meine, hallo, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein geselliger und fröhlicher Mann wie Pete ein globales Sportereignis wie das finale amerikanische Eierweitwerfen sich alleine ansehen will?

Kurz und gut, Schreck und aufbrodelnde Wut bildeten bereits im Flur eine unheilvolle Allianz, als ich über eine unübersichtliche Anzahl unsortiert in die Gegend gepfefferter Schuhe, Jacken und Mäntel stolperte.

Vor dem vollständigen Verarbeiten dieser visuellen Information dröhnte von drinnen eine Kakophonie aus lallendem Gelächter und lautstarker Diskussion an mein Ohr, die meinen Hals auf den Umfang eines preisgekrönten Sumo Ringers anschwellen ließ.

Was zum Honk geht hier vor? dachte ich noch und machte den nächsten Fehler: ich ging tatsächlich ins Wohnzimmer.

Warum bin ich blödes Schaf nicht einfach nur leise wieder rausgeschlichen und die Treppe nach unten gelaufen, um für diese Nacht ukrainisches Asyl zu erbitten?

Also das Wohnzimmer.

Tür auf.

Durch undurchdringlichen, blauen Nikotinnebel erkenne ich diverse Gestalten, die – soweit sie ihre Muttersprache noch nicht endgültig verloren haben – mehr oder weniger fachkundig das bunte Geschehen auf dem Monitor kommentieren.

Dass sich mein – unser – Wohnzimmer innerhalb weniger Stunden in eine qualmende Spelunke voller besoffener Proleten verwandelt hat, in dem auf Sauerstoff angewiesene Organismen kaum eine reelle Überlebenschance haben: geschenkt.

Dass ich ohne gründlicher nachzuzählen mindestens 40 (!) Bierdosen herumliegen sehe, von denen drei oder vier umgekippt sind, bevor der dazu gehörende Neandertaler sie endgültig geleert hat: geschenkt.

Dass sich mir mehrere Paar Füße vom Couchtisch aus entgegenstrecken, und einer von denen mir durch größere Löcher des ihn umgebenden Strumpfes hindurch fröhlich zuzuwinken scheint: geschenkt.

Aber als ich sehe, dass einer dieser Höhlenmenschen neben sich die kleine Kristallschale stehen hat, die sonst oben in der Vitrine thront, und sie als Aschenbecher mißbraucht, bricht der allerletzte Rest meiner Beherrschung mit apokalyptischem Donnerhall in sich zusammen.

Diese kleine Kristallschale ist ein Erbstück meiner Mutter. Eine Reliquie sozusagen. Ich ziehe buchstäblich Samthandschuhe an, wenn ich sie regelmäßig aus der Vitrine nehme, um dort Staub zu wischen, und ich habe ernsthaft überlegt, sie bei Lloyd’s zu versichern.

Ich glaube, durch das neblige Gejohle hindurch Peters fröhliches „Schönheit, da bist du ja, wie war’s bei euch?“ zu vernehmen, als ich mit meiner Stimme mühelos diesen Karneval durchdringe und ihn anblaffe: „Doktor von und zu Tafelberg, darf ich dich bitte mal unter vier Augen sprechen!“

Dann stürme ich ihm voraus in die Küche.

Unsere Küche ist ein relativ langer, schmaler Schlauch, ich stehe ganz am Ende, als er dazukommt und mich verliebt wie ein Schuljunge anstrahlt.

Hätte, wenn und wäre.

Hätte dieser eine Primat sich nicht an Mamas Kristallschale vergriffen, würde ich Peter selbst jetzt noch vermutlich einen fröhlichen Restabend wünsche, ihn darauf hinweisen, dass ich die Nacht eine Treppe tiefer verbringe und nachdrücklich von ihm die vollständige Wiederherstellung des Istzustandes unserer früher einmal hübschen Wohnung vor der Invasion der Außerirdischen zu fordern.

Er hätte mir wahrscheinlich eine tolle Nacht gewünscht, mich gebeten, in Form meines Lieblingsdildos einen lieben Gruß von ihm in Oksana reinzuschieben, und alles wäre perfekt gewesen.

„Wenn ich dieses Feldlager das nächste Mal wieder betrete, finde ich hier keinen Krümel mehr von diesen Aliens, haben wir uns verstanden; Peter! Und verlass dich drauf, wenn Mamas Kristallschale etwas passiert, versenke ich dich im Fluß, mit einem Paar Betonstiefeln an den Füßen, ist das klar!“

Er will irgendwas albernes erwidern. Natürlich, nach dem hurtigen Genuss einer Palette Ale kann ja nur noch alberner Kram kommen. Zu solch rationalem Denken bin ich nicht mehr imstande. Höre nur irgendwas von „jajaja, ich kauf dir ne neue, wenn die runterfliegt“ und Millisekunden später passiert, was uns gefühlt schon eine dreiviertel Ewigkeit nicht mehr passiert ist: eine billige IKEA Tasse fliegt in einer schnurgeraden Linie etwa acht Zentimeter an Peters Gesicht vorbei und zerschmettert hinter ihm neben der Tür an der Wand.

„Übertreib es nicht, Kerl!“ schreie ich ihn an „Die nächste trifft, verlass dich drauf!“

Ja, ich weiß, wer schreit, hat aufgehört zu denken. Habe diesbezüglich für mich niemals Unfehlbarkeit deklariert, oder?

Was folgt, ist ein Wortwechsel, neben dem man einen startenden Jumbo Jet nicht würde hören können, und die Erkenntnis, dass wir die nächsten Tage von Papptellern essen müssen, bis wir einen Satz neue Frühstückskeramik eingekauft haben.

Da sind sie wieder, die Kontinentalplatten, die ungebremst aufeinander knallen und Gebirge auftürmen.

Als ich zurück ins Wohnzimmer gehe, bin ich nur noch um das Mindestmaß an Schadensbegrenzung bemüht.

In der Vitrine, deren oberster Glasboden für Mamas Kristall reserviert ist, steht Peters Whiskysammlung.

Single Malt Flaschen werden zum Teil in metallenen Röhren aufbewahrt. Ich schnappe mir eine solche Röhre, hole die Flasche heraus und stelle sie auf den Tisch. Ein Highland Park aus einer Zeit, in der ich noch Jungfrau war…

Schenke dem Kristallschalenprimaten, als ich mich zu ihm herunterbeuge, ein Lächeln und einen Einblick in meine Bluse, von dem er in nüchternem Zustand wahrscheinlich einen Mordsständer bekommen würde, nehme ganz vorsichtig das Kristallschälchen aus seiner Hand und kippe die Hinterlassenschaften seines Zigarettenkonsums in die Whiskyröhre von den Orkneys, drücke ihm die Röhre in die Hand, wackle mit dem Hinterteil so dicht an seinem Gesicht vorbei, dass ich ihn fast streife, und befördere das Schälchen wieder an seinen angestammten Platz.

Ich weiss, dass Oksana die Türglocke nicht hört, wenn sie schläft, aber sie hat ihr Handy ständig bei sich und ich hoffe, dass sie es noch hört.

Es klingelt nur einmal, dann ist sie dran. „Was ist denn bei euch da oben los?“ fragt sie fröhlich lachend.

„Erzähle ich dir gleich, wenn ich runterkommen darf.“

„Was für eine Frage!“

Das Gute: ich heule nicht mehr. Nicht so wie früher. Ich bin einfach nur tierisch wütend. Auf ihn. Natürlich auf ihn.

Aber auch auf mich.

Warum besprechen wir sowas nicht vorher?

Es ist schon früh am Morgen, als Oksana und ich endlich ins Bett fallen uns aneinander kuscheln und sofort einschlafen.

Ohne multiple Orgasmen.

Ohne Gruß.


Antworten

  1. Frau vergisst öfter, dass der Mann unter seinesgleichen in Sekundenschnelle in einen Neandertaler mutiert und dich dabei auch noch cool vorkommt.

  2. Au weia. Irgendwie kenne ich das.


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